Spoilerwarnung.
Dieser Artikel enthält massive Spoiler auf "Keine Gnade", die fünfte Folge der ersten Staffel von "Star Trek: Picard" und sollte erst gelesen werden, wenn man diese und weitere Folgen bereits gesehen hat.
Einleitung.
Ich habe mir den großen Zeh gebrochen.
Das ist eigentlich weder gut noch sonderlich angenehm, doch während meiner dreieinhalb Stunden Aufenthalt in der Notaufnahme verfügte ich ausnahmsweise einmal über genügend Zeit, mir den "Picard"-Roman zur aktuellen Serie zu Gemüte zu führen.
"Die letzte und einzige Hoffnung" aus der Feder von Una McCormack ist in der Tat ein Werk, dass maßgeblich zum Verständnis der Serie beiträgt, denn darin werden nicht nur Raffis familiäre Probleme näher geschildert, sondern auch Juratis Beziehung zu Bruce Maddox ausführlich beschrieben. Es ist in jeglicher Hinsicht eine ideale Lese-Ergänzung zum Fernseh-Erlebnis und ein cleveres Stück Marketing, dieses Buch zusammen mit den “Countdown”-Comics zu veröffentlichen.
Eine Frage aber bleibt bei aller Begeisterung im Raum stehen:
Sollte man das Buch vor der letzten Folge überhaupt lesen?
Sollte man das Buch vor der letzten Folge überhaupt lesen?
Story.
Jean-Luc Picard und seine inzwischen vollständig zusammengewürfelte Crew sind endlich auf dem Weg nach Freecloud, um dort Bruce Maddox ausfindig zu machen. Doch sie sind spät dran; der verzweifelte Kybernetiker befindet sind in den Fängen einer zwielichtigen, lokalen Unterweltbossin namens Bjayzl, die plant ihn an den romulanischen Geheimdienst Tal Shiar zu veräußern.
So hecken Picard und seine Mannen zusammen mit Seven of Nine einen gewieften Plan aus, um den Wissenschaftler zu befreien: Mit Seven of Nines lukrativen Borg-Implantaten als Lockmittel wollen sie Bjayzl zu einem riskanten Tauschgeschäft ermuntern. Doch zunächst muss die Mannschaft dafür eine Reihe von Hindernissen überwinden. Sie sind gezwungen in verschiedene Rollen zu schlüpfen, einen Lügendetektor auf zwei Beinen auszutricksen und ihren Betrug soweit voranzubringen, dass sie Maddox' habhaft werden können.
Doch aller Aufwand scheint umsonst, als sich herausstellt, dass ausgerechnet Seven of Nine Picard ausnutzt, um durch ihn Zugang zu der von ihr verhassten Kriminellen zu erlangen... Lobenswerte Aspekte.
Moralität.
Düster wird es in dieser Episode, doch wo viel Schatten ist, fällt (neben vielen Lens Flares) auch immer viel Licht.
So nimmt sich "Keine Gnade" Problemen an, die zum Standard-Repertoire Star Treks gehören, um sie in einer völlig neuen Weise zu beleuchten.
Etwa die Frage, wie weit man bereit ist für den Fortschritt zu gehen.
Lässt man andere Lebewesen töten, um deren Einzelteile für einen nanotechnologischen Organhandel zu erlangen, die entweder für Forschung, Profit oder Sammelleidenschaften herhalten müssen?
Oder die Frage nach Schuldigkeiten.
Ist es angemessen, seiner eigenen Mutter trotz redlicher Besserungsbemühungen ihrerseits beständig die Fehler ihrer Vergangenheit vorzuhalten?
Legitimieren die fatalen Folgen der Forschung eines Wissenschaftlers dessen Tod?
Ist der Tod ganz generell eine legitime Antwort auf erlittenes Leid, egal von welcher Tragkraft?
Die ganz große Frage bleibt allerdings eine, die sich wie ein roter Faden durch die bisherige Franchise gezogen hat und auch vor "Picard" nicht haltmacht.
Was genau ist eigentlich überhaupt Menschlichkeit?
Was macht sie aus?
Was passiert, wenn wir unsere Menschlichkeit verlieren?
In diesem Zusammenhang bleibt Picards vorläufiger Abschied von Seven of Nine die stärkste Szene in der gesamten Folge, weil es das gleiche Dilemma in unterschiedlicher Ausprägung zeigt. Während Picard seiner Menschlichkeit nach seiner Assimilation nur noch mehr Gewicht verlieh, stellt Seven wenige Momente später unter Beweis, dass sie in den Jahren nach ihrer Ankunft auf dieser Seite der Galaxis den negativen Seiten dieses Begriffs erlegen ist.
Damit wird schließlich auch das Grundproblem deutlich, das mit diesem sehr schwammigen Ausdruck verbunden ist:
Menschlichkeit ist keineswegs etwas, das sich bequem in gut und böse, richtig und falsch oder gar schwarz und weiß unterteilen lässt.
Menschlichkeit ist individueller Auslegung unterlegen und kann von zwei verschiedenen Menschen völlig unterschiedlich ausgelebt werden.
Und Menschlichkeit umfasst ebenso den Begriff Gnade, wie den bewussten Verzicht darauf und in dieser Folge gelingt es trefflich, dieses Problem zu schildern.
Besetzung.
Die großartige Hauptbesetzung bleibt für Überraschungen jeglicher Art gut, auch wenn einschränkend zu bemerken bleibt, dass "Picard" dieses Mal bei der Auswahl der Nebendarsteller eher zu wünschen übrig ließ (und das im wahrsten Sinne des Wortes).
Patrick Stewart wird als Jean-Luc Picard fraglos seinen Spaß gehabt haben, als er seine Rolle erstmals mit schwerem französischen Akzent als eine Art gallischen General Chang darstellen durfte, aber diese Szenen kratzten mit zu großer Beständigkeit an der schmalen Grenze zu sinnfreier Albernheit. In all dem turbulenten Geschehen fiel dem sichtlich gealterten Mann beinahe eine Nebenrolle zu, wenn er nicht - wie eingangs bereits erwähnt - zusammen mit Jeri Ryan in der wohl denkwürdigsten Szene dieser Folge seine gewohnte Präsenz kurz vor Folgenende wiederentdeckt hätte.
Jene Seven of Nine an seiner Seite bildete viel mehr den Mittelpunkt dieser Episode als der eigentlich namensgebende Charakter dieser Serie. Dabei legte die Autorin Kirsten Beyer bereits frühzeitig Wert darauf, dass sich die äußerlich (vor allem im Vergleich mit Picard) erschreckend jung gebliebene Frau innerlich radikal gewandelt hat: So trinkt sie Bourbon, leistet Sterbehilfe für Icheb und hintergeht letztendlich doch den in ihrer Wahrnehmung wirklichkeitsfremd agierenden Picard (vgl. Denkwürdige Zitate). Sie tritt im Gegensatz zur vorherigen Darstellung Sevens in "Star Trek: Voyager" als höchst brutaler Rächer in bester Arrow-Manier auf und es ist bemerkenswert, wie man diesen in Fankreisen so beliebten Charakter so mir-nichts-dir-nichts zu einem Gegenpol zum idealistischen Ex-Admiral stilisierte.
Mehr noch; Seven versinnbildlicht die in ihren Werten gleichsam gefallene Föderation in einer Person.
Doch wie für die Föderation auch besteht noch immer Hoffnung für die ehemalige Borgdrohne.
Seven kämpft einen vermeintlichen Kampf gegen die Windmühlen, um Recht und Gesetz in einer instabilen Region aufrechtzuerhalten, versucht Picard und seine tollkühne Crew zu schützen und überreicht ihm am Ende sogar so etwas wie das Bat-Signal, mit dem er sie in Zeiten der Not anklingeln kann.
Nicht so ganz sicher bin ich mir allerdings in der Beziehung, die diese Folge zwischen ihr und Bjayzl suggeriert. Nicht, dass ich etwas gegen eine solche gleichgeschlechtliche Beziehung hätte; ich hätte mir einzig deutlichere Worte dafür oder dagegen gewünscht. Denn eine Beziehung zwischen den beiden hätte Sevens Rachegelüste und ihre Interpretation von Menschlichkeit nur noch weiter unterstrichen.
Der zweite große Star von "Keine Gnade" bleibt Raffaela 'Raffi' Musiker. In der starken Nebenhandlung der Folge sucht sie nach ihrem Sohn, nur um von diesem abgewiesen zu werden. Ihre Geschichte, nunmehr um eine persönliche Tragödie bereichert, zeigt umso mehr, wie ihre Sternenflottenkarriere, die Zusammenarbeit mit Picard, die gescheiterte Evakuierung des romulanischen Sternenimperiums und vor allem der Angriff auf den Mars ihr Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hat. Es zeigt, wie sie sich von ihrer eigenen Familie entfernt hat und in eine Drogenabhängigkeit verfiel, ohne ihren Prinzipien und Ansichten untreu zu werden.
Das alles spielt Michelle Hurd mit einer eindringlichen Überzeugungsgewalt, der man den kaltschnäuzigen früheren Geheimdienstoffizer ebenso abnimmt, wie die zurückgewiesene Großmutter, zumal Mason Gooding in der Rolle ihres Sohns Gabriel 'Gabe' Hwang im kongenialen Zusammenspiel mit ihr großartige Arbeit leistet, um den schwelenden Konflikten zwischen beiden Familienangehörigen Ausdruck zu verleihen.
Auch Allison Pill als Dr. Agnes Jurati gelang es eindrucksvolle Ausrufezeichen zu setzen. Nach anfänglicher Nervosität gelingt ihr recht eindringlich der Sprung vom Tilly-Klon zum Ash-Tyler-Nachfolger. Immerhin bleibt ihre Motivation (noch) ungewiss und scheint eher von idealistischen Motiven und Verzweiflung getrieben. Es bleibt - aufgrund der wenigen Zeit, die diese Episode der Aufdeckung dieses doppelten Spiels widmete - dem Informationsgehalt kommender Episoden überlassen, dieser Entwicklung einen passenden Rahmen zu verleihen. Bis hierher wirkt Juratis Dolchstoß jedoch im Hinblick auf parallele Erzähltraditionen bei "Star Trek: Discovery" in etwa so originell wie die Flagge Indonesiens im Vergleich mit der Monacos.
Santiago Cabrera bleibt als Cristobal Rios eine qualitative Konstante der Serie und darf abermals aus seiner Rolle ausbrechen - dieses Mal jedoch nicht primär als Hologramm, sondern als Rios in Verkleidung. Das funktioniert im Vergleich besser als bei Jean-Luc Picard, zumal Rios trotz seines schillernden Äußeren nicht zur überkandidelten Extravaganz neigt.
Vergleichsweise wenig zu tun bekommt Evan Evagora in "Keine Gnade", nachdem sich die letzte Folge beinahe allein um Elnor gedreht hat. In den wenigen Dialogen mit seiner Beteiligung erinnert er entfernt an Spock oder Data, weil ihm als Kind der Qowat Milat das Konzept von Lügen ebenso fremd ist, wie den beiden genannten Star-Trek-Legenden die Possen menschlicher Emotionen.
Verpasste Gelegenheiten offenbaren sich schließlich mit den Nebenrollen.
So bleibt beispielsweise Bjayzl vor allem deshalb in Erinnerung, weil Necar Zadegan aufgrund ihrer entfernten Ähnlichkeit zu Marina Sirtis auch genauso gut hätte gecastet werden können, um Deanna Troi spielen zu können. Das allein mag eine Randnotiz sein.
Das eigentliche Problem an ihr ist ihre vergleichsweise hohe Qualität als Darstellerin einerseits und das Potential ihrer Rolle andererseits.
Gerade im Zusammnehang zur recht flach gezeichneten Narissa Rizzo blieb Bjayzl die tiefere und spannendere Figur, zumal die Abgründe der kriminellen Unterwelt im Star-Trek-Universum weit weniger stark beleuchtet wurden, als die Ränkespiele der Romulaner. Ihr Tod ist nicht zuletzt deswegen ein herber Verlust für die Serie.
Gleiches gilt für den Beta Annari Mr. Vup, auch wenn Domenic Burgess in dieser Rolle eher an einen Sontaraner aus Doctor Who erinnerte. Aber seine olfaktorisch besonders begabte Spezies und deren Einsatz für eine verbrecherische Organisation bildeten eine der besseren Ideen dieser Folge.
Vor allem aber stößt auf, dass nach Gastauftritten von Brent Spiner, Jeri Ryan oder Jonathan Del Arco die Rollen von Icheb und Bruce Maddox neu besetzt wurden.
Natürlich kann man gut verstehen, dass sich ein Manu Intiraymi weigern könnte, einem derart kurzen Auftritt beizuwohnen, der mit dem überaus blutreichen Tod seiner erfolgreichsten Rolle enden würde. Auch Brian Brophy wird sicherlich in Anbetracht des Umfangs dieses Auftritts zu Recht abgesagt haben. Aber auch wenn weder Casey King noch John Ales einen schlechten Job verrichten, bleibt die Abwesenheit der originalen Darsteller auch ein kleiner Bruch mit der anfänglich beschworenen großen Nostalgie.
Oder steckt vielleicht mehr hinter dieser auf den ersten Blick etwas befremdlichen Casting-Entscheidung?
Kritikwürdige Aspekte.
Grundton.
Zum zweiten Mal führt Jonathan Frakes Regie und abermals weiß er mit schönen Schnitten, toller Musik (insbesondere der Voyager-Klänge im Zuge der denkwürdigen Unterredung Sevens mit Picard) und einem erhöhten Erzähltempo zu überzeugen. Dabei verzichtet die Folge zum Wohle des Spannungsaufbaus völlig auf die bislang ohnehin eher aussagearmen Einblicke auf das Geschehen an Bord des Artefakts.
Zu den Kehrseiten der Medaille zählt neben vielen Lens Flares aber auch der nicht immer gelungene Gratwanderung zwischen den beinahe schon übertrieben ernsthaft inszenierten Motiven und den karnevalsartig umgesetzten Undercover-Szenen. Vor allem aber wurden pünktlich zur Halbzeit der ersten Staffel mehr als genug Fässer für eine ganze Serie aufgemacht. Dabei wurde allerdings im gleichen Atemzug sträflichst verpasst, die bisherige Handlung entscheidend voranzutreiben: Die La Sirena ist noch immer weit von Sojis Aufenthaltsort entfernt, über die gemeinsame Verschwörung von Romulanern und Föderation weiß man noch immer keinen Deut mehr als zuvor und das Beste, was man Bruce Maddox' kurzem Gastspiel in diesem Moment noch abringen kann ist, dass er Picard mit Antworten auf drängende Fragen seinerseits versorgt hat, durch die er in etwa genauso gut informiert ist wie der Zuschauer selbst.
Statt also die Handlungsentwicklung entscheidend voranzutreiben, werden plötzlich neue Nebenkriegsschauplätze aufgemacht. Die Fenris-Ranger zum Beispiel, die das Machtvakuum in der rechtlosen Pufferzone zwischen Föderation und Romulanern ausfüllen und Picard bei seinem Unterfangen in zukünftigen Folgen sicherlich noch von Nutzen sein werden. Oder Juratis absehbarer Seitenwechsel, der nicht nur dem Konfliktknäuel der einzelnen Seriefäden zusätzliche Störknoten beschert, sondern eine lose Verbindung zur verloren geglaubten Commodore Oh knüpft.
Vor allem aber markiert "Keine Gnade" einen erschreckenden Richtungswechsel.
Das fängt schon mit dem überaus brutalen Einstieg an, der Amazon Prime Video zum Unbill vieler Zuschauer (nicht ganz zu Unrecht) zwang, seine Kunden nach Altersnachweisen zu fragen. Spätestens damit dürften aber auch dem letzten Star-Trek-Anhänger aufgefallen sein, dass jene Zeiten endgültig vorbei sind, in denen Star Trek eine Familienshow war. Das wirkt natürlich etwas widersprüchlich bei einer Serie, die einen guten Teil der Zuschauerschaft hierzulande rekrutieren konnte, weil dieser nach der Schule heimwärts eilte, um dort den Abenteuern Picards folgen zu können.
Überhaupt scheint sich die Episode über sorgsam in Szene gesetzte Schockmomente profilieren zu wollen. Neben dem visuell unnötig brutal gestalteten Beginn sehen wir Seven Bourbon trinken, Jurati Maddox küssen, die Voyager-Ikone Seven den TNG-Helden Picard hintergehen, Jurati Maddox ermorden und Seven Amok laufen.
In seiner Darstellungsweise geht "Picard" urplötzlich ungewohnt drastisch vor und wechselt in einen sehr düsteren Grundton, der nur schwer wieder abzuschütteln sein wird. Denn er umfasst nicht allein "Keine Gnade" im Speziellen, sondern längst "Star Trek: Picard" im Allgemeinen.
Der anfängliche Optimismus der ersten Folgen scheint durch die radikalen Taten von Seven und Jurati wie davongewischt und ich kann (nicht zuletzt im Hinblick auf ähnliche Entwicklungen bei Discovery) jeden verstehen, der den großen optimistischen Star-Trek-Gedanken bedroht sieht, der bislang jeder einzelnen Star-Trek-Serie zugrunde lag und der Franchise ein Alleinstellungsmerkmal verlieh.
Bereits der mehrfach erwähnte Dialog zwischen Picard und Seven, zeigt als Höhepunkt der Folge bei Lichte betrachtet eigentlich nur umso mehr wie einsam Picard mit seinen unverändert humanistischen Werten (ich weiß, das klingt rassistisch) dasteht und dass selbst vermeintliche Lichtgestalten wie Seven vom rechten Weg abgekommen sind.
Die Dystopie schickt sich spätestens mit dieser Folge an, den bislang optimistischen Charakter Star Treks vollends zu überschreiben (was im Hinblick auf das bislang angedeutete Geschehen in der dritten Staffel Discoverys jedoch sogar notwendig zu sein scheint).
So gesehen ist die fünfte Episode die wohl wichtigste bis dato. Sie gibt - nach einem irreführenden Einstieg mit vielen Nostalgie- und Rückbesinnungsmomenten - den ungleich ruppigeren Ton für den Rest der Serie an und hat dafür gesorgt, dass die gesamte Stimmung umschlägt.
Und doch besteht Hoffnung.
Die Hoffnung, die von ehemaligen Sternenflottenoffizieren wie Picard, Rios oder Musiker hochgehalten werden.
Die Hoffnung, dass ihre Ideale allen Widerständen zum Trotz letztlich obsiegen werden.
Und die Hoffnung, dass diese Folge verbrannte Erde hinterlassen hat, um auf ihr schlussendlich doch die gleich von Optimismus gedüngte Saat sprießen zu lassen, die Star Trek bereits zuvor zu etwas Außergewöhnlichem in der Science-Fiction-Landschaft erblühen ließ.
Kanonbrüche und Logiklöcher.
Die meisten Kanonhäppchen sind eher beiläufig erwähnte Gimmicks wie Tranya und Quark oder beschränken sich allein auf Leuchtreklamen für Mr. Mot und Quarks Bar in einem einzigen Szenenbild.
Aber es gibt auch noch ein, zwei andere stilvollere Kanonbezüge, die in dieser Episode untergebracht wurden.
Mein erklärter Liebling ist dabei die vergebliche Suche der 'Chirurgin' nach Ichebs Kortikalknoten, denn nur eingeweihte Zuschauern werden sich erinnern, dass der Ex-Borg diesen in “Unvollkommenheit” im Zuge einer ungleich humaneren Operation an Seven of Nine spendete, um ihr Leben zu retten.
Auch der skrupellose Handel mit wertvollen Borgimplantaten geht in ähnlicher Form auf Voyager zurück, wo schon in "Eingeschleust" mehrere Ferengi bereit waren, den Tod einer ganzen Raumschiffbesatzung im Austausch gegen Borg-Technologie billigend in Kauf zu nehmen.
Damit sind die Rückbezüge auf den Kanon aber auch schon weitestgehend abgehandelt und es zeigt sich ein harter Bruch sowohl in der Menge als auch in der Qualität dieser Referenzen gegenüber den bisherigen Episoden der Serien.
Und sie wirft mehrere berechtigte Fragen auf. Die wichtigste in meinen Augen:
Warum zum Teufel hat die La Sirena keinen Adblocker installiert?
Immerhin war der auf diese Weise gezeigte Umgang mit personalisierter Werbung in der Star-Trek-Zukunft ein so interessanter wie unterhaltsamer Einfall.
Aber auch ernsthaftere Ungereimtheiten säumen den Weg dieser Folge.
So scheint es doch vergleichsweise unwahrscheinlich, dass der Franzose Picard mit einem französischen Akzent nicht erkannt wird, obwohl Freecloud im Operationsbereich der Fenris-Ranger und damit auch dem Evakuierungsgebiet nach der romulanischen Supernova lag.
Zudem sollte auch der frühere Admiral für Bjayzl von größerem Interesse sein, denn wie Seven of Nine ist auch er ein ehemaliger Borg, der sicherlich noch das ein oder andere wertvolle Implantat für ihren florierenden Kybernetikorganhandel zu bieten hätte.
Picards Wahrnehmungsfähigkeiten müssen gleichermaßen angezweifelt werden. Schließlich verschenkt er nicht nur zwei Phasergewehre an Seven of Nine, sondern lässt auch zu, dass sie mit aktivierten Waffen auf die Planetenoberfläche zurückkehrt. Dass sich Picard hier nicht in der Lage zeigt, eins und eins zusammenzuzählen, entfernt ihn deutlich vom vergleichsweise vorausschauenden Captain in TNG, auch wenn sein Verhalten an dieser Stellen mit seinem fortschreitenden Alter und seiner Erkrankung erklärt werden kann.
Zudem bleibt unklar, warum Pel und Gabe ein Kinderwunschzentrum in solch zwielichtiger Umgebung wie Stardust City besuchen müssen, um ein romulanisch-menschliches Kind zu zeugen. Schließlich wissen wir, dass klingonisch-romulanische (Ba'el) oder menschlich-romulanische Kinder (Sela) keineswegs ohne Präzedenzfall im Star-Trek-Universum sind und dass deren Geburtsumstände entsprechende Einrichtungen eher unwahrscheinlich machen. Und das Föderations-Gesundheitssystem, das immerhin Spock als Kind vulkanischer und menschlicher Eltern ermöglichte, sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt...
Gespalten bin in allerdings bei der brutalen Einstiegsszene der Folge. Trotz oder gerade wegen ihrer exzessiven wie eindringlichen Darstellung von Gewalt empfinde ich sie als wichtig für das Verständnis für Seven of Nines späteres Handeln. Allerdings beschreibt die Fenris-Aktivistin Icheb als ehemaligen Wissenschaftsoffizier an Bord der USS Coleman, doch in dieser Szene trägt er eindeutig eine Kommando-Uniform. Man könnte darüber an dieser Stelle schimpfen wie ein Rohrspatz, aber am Ende des Tages finde ich es nicht unbedingt unpassend, dass er sich vor dieser schweren Stunde ausgerechnet ein 'Redshirt' angezogen hat...
Synchronisation.
Vorweg sei erst einmal bemerkt, dass der “Planet Vergessen” auch im Englischen Original den gleichen Namen trägt - einer der wenigen Momente, in denen die deutsche Sprache prominent im Star-Trek-Universum Einzug hält.
Ansonsten ist die deutsche Fassung natürlich nicht frei von Fehlern, aber sie hat auch ihren Reiz.
So ist Picards französischer Akzent im deutschen noch weniger gelungen als im englischen Original und auch das Siezen wirkt abermals merkwürdig platziert. Auch die Übersetzung des Folgentitels "Stardust City Rag" mit "Keine Gnade" halte ich für wenig gelungen.
Dafür wirken allerdings die vielen englischen Ausflüge in die Vulgärsprache im deutschen ungleich harmloser, auch wenn mir der Einsatz des Begriffs "Scheiße" noch immer eher bemüht vorkommt (vgl. Denkwürdige Zitate).
Besonders positiv anzumerken bleibt, dass man versuchte, den Faux-Pas der Casting-Abteilung dadurch zu kompensieren, dass man mit Sebastian Schulz die originale Stimme Ichebs verpflichtet wurde. Ich bin mir sogar sicher, dass Wilfried Herbst als Sprecher für Bruce Maddox herangezogen worden wäre, wenn dieser nicht kurz vor seinem 85. Geburtstag stehen würde (seine letzte Sprechrolle datiert aus dem Jahre 2009).
Verschwörungstheorien.
Im Folgenden sollte nur weitergelesen werden, wenn man bereit ist, sich die Überraschung verderben zu lassen, denn an dieser Stelle folgen einige Überlegungen zu möglichen Richtungen, in die sich die Serie bewegen wird.
Also: Absolute Spoilerwarnung!
Mit der scheinbar beiläufig in den Raum geworfenen Bemerkung Gabriel Hwangs über die "Konklave der Acht" hat die Folge immerhin einen weiteren Hinweis darauf gestreut, was die Kooperation von Föderation und Romulanern während der Evakuierung und des Angriffs auf den Mars angeht. Gerade Raffis stures Beharren auf eine Konspiration in den obersten Rängen wird sich am Ende als korrekt entpuppen.
Das gleiche gilt wohl auch für eine andere Fan-Theorie, die bedeutende Reichweite durch den Podcast von "Planet Trek" erhalten hat. In ihr wird die These aufgestellt, dass Soji für die romulanische Supernova verantwortlich sein wird und dass sie vor allem deshalb als 'Seb-Cheneb' bezeichnet im Fokus der Zhat Vash steht. Das deckt sich mit einigen Nebensätzen im Picard-Roman (vgl. z.B. S. 86), in denen eine nicht-natürliche Ursache für die Supernova angedeutet wird.
Seit dieser Folge erhält diese Vermutung zusätzliche Nahrung, denn was immer Dr. Jurati im Zusammenhang mit Maddox' Arbeit gezeigt wurde (vgl. Denkwürdige Zitate) hat das Potenzial, auch für eine unheilige Allianz zwischen Romulaner- und Föderationsspitze zu sorgen, die aller Katastrophenlage zum Trotz zu extremen Maßnahmen greift.
Trotz anfänglicher Skepsis kann ich mich vielen Aspekten dieser reizvollen Idee nicht länger entziehen und bin nach dieser Folge dazu geneigt, ihr Glauben zu schenken.
Fazit.
"Keine Gnade" erforscht eindringlich die dunkelsten Ecken der Menschlichkeit und rückt dafür die Schicksale Seven of Nines und Raffi Musikers in den Fokus einer Folge, die in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen fällt. Jonathan Frakes leistet eine an sich handwerklich stabile Arbeit, auch wenn der Episode der ambitionierte Balanceakt zwischen Anspruch und Albernheit nicht immer gelingt.
Stattdessen bietet "Keine Gnade" eine eher durchwachsene Halbzeitbilanz, vor allem, weil sie den Ton der bisherigen Folge zu abrupt verdunkelt und mit einer wenig originellen Parallelentwicklung zu Discovery nicht nur auf kreativer Ebene enttäuscht, sondern auch neue, äußerst dystopische Wege beschreitet, die die Serie beträchtlich von den Alleinstellungsmerkmalen Star Treks abweichen lassen.
Bewertung.
Zu durchwachsene Halbzeitbilanz.
Schluss.
Ich habe schon viele Vorabromane und Einleitungscomics gelesen und eines hatten sie alle gemein: Es hat nicht allzu lange gedauert, bis sie vom großen Kanon eingeholt wurden.
Das letzte Beispiel ist noch gar nicht so lange her und hat sogar mit den Ereignissen in Picard zu tun.
In der Countdown-Comic-Reihe zum ersten Star-Trek-Film von J.J.Abrams etwa wurde B-4 als Captain des Raumschiffes USS Enterprise-E eingeführt und die Supernova, die Romulus zerstörte, ging von einem völlig anderen System namens Hobus aus.
Das sieht nicht nur in der Picard-Serie, sondern auch im Begleitbuch nunmehr völlig anders aus.
Auch wenn "Die letzte und einzige Hoffnung" großartige Hintergrundinformation liefert, bleibt es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch diesen Informationen vom offiziellen Kanon widersprochen werden wird.
Es gibt aber auch noch ein weiteres Problem.
Ein Buch, dass dazu dient Lücken zu schließen, die in der Serie entstehen, werfen auch im Rückschluss ein schlechtes Bild auf die Serie. Denn allzu oft ist der Unterschied zwischen Zusatzinformation und zentralem Erzählinhalt schmal genug, um den Gesamteindruck zu schmälern.
Deshalb empfehle ich an dieser Stelle zwar durchaus das Buch zu lesen, aber vielleicht damit zu warten, bis die erste Staffel komplett ausgestrahlt wurde, denn dem aufmerksamen Leser werden viele atemberaubende Entwicklungen weniger neu vorkommen als dem Zuschauer, der sich völlig unvorbereitet auf das Abenteuer "Star Trek: Picard" einlässt.
Denkwürdige Zitate.
"Wo ist Dein Kortikalknoten, Freundchen? Irgendwo muss er ja sein..."
'Chirurgin'
"Geht es Ihnen gut?"
"Ich... funktioniere."
"Darf ich Ihnen was anbieten? Tee? Wein?"
"Bourbon. Ohne Eis."
Jean-Luc Picard und Seven of Nine
"Ich bewundere die Ziele der Ranger; ihren Mut, ihre Hartnäckigkeit. Aber: Sie und die Ranger nehmen das Gesetz in die eigene Hand."
"Welches Gesetz?"
"Der Punkt geht an Sie."
"Nichtsdestrotz, sich selbst zum Henker und Richter zu ernennen ist..."
"Ich lass mir hier keinen Vortrag halten. Sie glauben, wir betreiben Selbstjustiz? Nach schön! Ranger zu sein ist mein Job. Ich rette damit nicht die Galaxis, aber ich helfe jenen, denen sonst niemand hilft. Es ist hoffnungslos, aussichtslos und ermüdend, aber noch schlimmer wäre es, wenn wir aufgeben würden."
Picard und Seven
"Oh, wow, dieser Ranger ist sie! Sie ist berüchtigt. Ninety-Nine oder Eleven oder..."
Cristobal Rios
"Rios, Du musst unbedingt versuchen Dich gut zu verkaufen. Gib ja nicht den existenzialistischen, düsteren Weltraumnomaden. Deine Persönlichkeit muss zu Deinem Äußeren passen. Sei ruhig ein bisschen exzentrisch."
"Am Hut fehlt noch 'ne Feder."
Raffi und Seven zu Rios
"Lassen Sie uns keine Zeit verschwenden, ihre Referenzen sind solide. Mr. Quark von Ferenginar war sehr zufrieden mit ihrer Hilfe bei seinen Problemen mit den Breen."
"Äh, ist nen ganz schönes Heckmeck gewesen..."
Mr. Vup und Rios
"Ich weiß nicht, wie ich nicht Elnor sein soll."
"Dann sei doch einfach Elnor."
"Ein Elnor der niemals redet."
Elnor, Picard und Seven
"Das war keine Schnapsidee! Hinter dem Angriff steckt mehr als Du denkst! Mein Schatz, es gibt eine Verschwörung und die ist größer als alle glauben! Es standen Leben auf dem Spiel!"
"Unsere Leben, Mom! Unsere Leben sind auch wichtig. Nur.. nicht für Dich. Ganz ehrlich, ich glaube Du kannst Dir gar nicht vorstellen wie Scheiße es war Dein Sohn zu sein."
Raffi Musiker und Gabe Hwang
"Nennen sie die Art des psychiatrischen Notfalls."
MHN der La Sirena
"Was in aller Welt geht hier vor?"
"Ich bin nicht ganz aufrichtig zu ihnen gewesen..."
"Was Sie nicht sagen..."
"Täuschen wir immer noch was vor?"
"Nein, Elnor, inzwischen haben endlich alle damit aufgehört".
Picard und Seven
"Aber Mord ist keine Gerechtigkeit. In der Rache fidnet man keinen Trost. Ihnen wurde Ihre Menschlichkeit zurückgegeben; werfen Sie sie nicht einfach weg."
Picard zu Seven
"Hatten Sie nachdem man Sie aus dem Kollektiv zurückgeholt hat, wiklich das Gefühl, dass Sie Ihre Menschlichkeit zurückgewonnen hätten?"
"Ja!"
"Voll und ganz?"
"Nein. Aber wir beide arbeiten daran, nicht wahr?"
"Jeden verdammt Tag."
Seven und Picard
"Picard denkt tatsächlich immer noch, es gibt Platz für Gnade in der Galaxis.Ich wollte ihm die Illusion nicht nehmen. Iregendwer muss ja noch etwas Hoffnung haben."
Seven
"Okay, Jefe!"
"Alter Mann wäre treffender."
Rios und Picard
"Es tut mir Leid! Würdest Du nur wissen, was ich schon weiß. Und würde ich es doch nicht wissen. Ich wünschte, sie hätten es mir nicht gezeigt. Es tut mir so Leid! Es tut mir Leid! "
Dr. Agnes Jurati
Weiterführende Leseliste.
01. Rezension zu "Gedenken"
02. Rezension zu "Karten und Legenden"
03. Rezension zu "Das Ende ist der Anfang"
04. Rezension zu "Unbedingte Offenheit"
05. Rezension zu "Keine Gnade"
06. Rezension zu "Die geheimnisvolle Box"
07. Rezension zu "Nepenthe"
08. Rezension zu "Bruchstücke"
09. Rezension zu "Et in Arcadia Ego, Teil Eins"
10. Rezension zu "Et In Arcadia Ego, Teil Zwei"