Montag, 14. Juli 2014

Vive la France oder God save the Queen? Picard zwischen Großbritannien und Frankreich

Jedes Jahr am 14. Juli begeht unser Nachbarland Frankreich seine te nationale, also seinen Nationalfeiertag mit einer Menge militärischem Brimborium. Vor allem in der Kapitale Paris, die ja in der Star-Trek-Zukunft als Sitz des Föderationspräsidenten zu einer Art Hauptstadt für einen Großteil des Alpha- und Beta-Quadranten der Milchstraße werden soll, zentrieren sich die Feierlichkeiten. Aus Sicht eines Trekkies liegt die herausragende Bedeutung des Staates jedoch in erster Linie darin, als Geburtsort des legendären Sternenflottencaptains Jean-Luc Picard gedient zu haben.
Und als wäre das noch nicht genug feierte gestern auch der englische Schauspieler Sir Patrick Stewart Geburtstag, der in über 177 Star-Trek-Episoden und in vier Kinofilmen die Rolle des Captain Picard mit Leben erfüllte.
Grund genug für die Star-Trek-Tafelrunde "Hermann Darnell" Potsdam-Babelsberg, beiden denkwürdigen Tagen ein Denkmal zu setzen. Allerdings soll an dieser Stelle weder eine Top-Ten-Liste der besten Picard Momente stehen, noch ein Gratulationsartikel, den weder Stewart noch irgendein Franzose je lesen werden.
Stattdessen wollen wir uns an dieser Stelle einmal einer Frage widmen, die die Fanseele beschäftigt wie kaum eine andere: Woher kommt eigentlich Captain Picard wirklich?
Denn auch wenn der Kanon strikt auf Frankreich als Urheimat des legendären Sternenflottenoffiziers verweist, gibt es eine Reihe von gewichtigen Gegenargumenten, die den Charakter eher jenseits des Ärmelkanals auf den Britischen Inseln verorten lassen. Um diesen spannenden Streit einmal näher zu betrachten, wollen wir nun einmal in lockerer Form ein paar Argumente für beide Seiten sammeln, um in einer anschließenden Konklusion einen Schlussstrich unter diese Debatte ziehen zu können.


Picard ist ein Franzose, weil...

sein Geburtsort La Barre im heutigen Regierungsbezirk Haute Saône innerhalb der Serie ("Familienbegegnung") und auf der Kinoleinwand ("Treffen der Generationen") hinlänglich etabliert ist. Die Autoren der Serie gingen sogar so weit, das verschlafene Dörfchen zum Ursprungsort allen Lebens auf der Erde zu deklarieren ("Gestern, Heute, Morgen") und somit den Stellenwert Frankreichs innerhalb Star Treks erheblich zu fördern.
Allerdings muss man einschränkend anmerken, dass die bekannten romantisierenden Darstellungen des Fleckens keinerlei Deckungsgleichheit mit dem tatsächlichen Ortsbild aufweisen.


Picard ein Experte für Weine und seine Herstellung ist. Als Spross einer alteingesessenen Winzerfamilie frönt der Captain zu verschiedenen Gelegenheiten ("Familienbegegnung", "Der Erste Kontakt", Star Trek: Nemesis") der urfranzösischen Leidenschaft für Weine – vorzugsweise denen aus eigenem Anbau.
Jedoch bleibt auch hier anzumerken, dass La Barre keineswegs in einer der ausgewiesenen Weingegend des Landes liegt und die tatsächlich existierende Weinmarke "Chateau Picard" aus dem knapp 800 Kilometer entfernten Saint Estèphe an der Atlantikküste stammt. Zudem ist die Vorliebe für solcherlei edle Tropfen keineswegs allein den Franzosen vorbehalten.


er zuweilen ins Französische zurückfällt. Zugegebenerweise kann man diese Momente an einer Hand abzählen und sie beschränken sich zumeist auf die Verwendung des unfeinen Ausdrucks "merde". Während Data die Sprache bereits als "obskur" bezeichnet ("Der Ehrenkodex"), gelingt es seinem Captain jedoch auf dem Holodeck bestens, sich in seiner vermeintlichen Landessprache zu verständigen ("11001001").
Spannend ist übrigens der Umstand, dass die Verwendung von "merde" in der französischen Synchronisation weniger präsent ist als in der englischen Originalausgabe oder deutschen Übersetzung:



.. er sich noch immer für französische Musik begeistert. Einmal abgesehen von Aufnahmen bekannter Franzosen wie Satie, Berlioz oder Bizet intonierte Picard zu diversen Gelegenheiten auch melodische Perlen wie "Auprès de ma Blonde", "Frère Jaques" oder "Sur le Pont d'Avignon". Ja sogar einige Takte der französischen Nationalhymne "La Marseillaise" schafften es als Hommage Qs an seinen selbsterklärten Freund in die Episode "Rikers Versuchung".


er immer auch seine Landsleute bedenkt. Der Captain der Enterprise nannte die Yacht seines Schiffes nach seinem Landsmann Cousteau (StarTrek: "Der Aufstand"), versuchte sich selbst am längst gelösten Satz des Fermats ("Hotel Royale") und schreckte auch nicht davor zurück, seinen ersten Offizier mit dem größten Feldherren seiner angeblichen Heimat zu vergleichen ("Rikers Versuchung")

er bereits in der ersten Episode der Serie kapituliert. Das gängige Klischee über Franzosen, die sich bei militärischen Auseinandersetzungen ergeben, blühte in den USA eigentlich erst seit der französischen Weigerung, der USA im zweiten Golfkrieg Unterstützung zu leisten auf. Aus dem Empfinden heraus, dass die Franzosen ihrerseits oft von amerikanischer Militärunterstützung profitierten (im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, im Vietnamkrieg u.s.w.) verfestigte sich vor allem im anglophonen Sprachraum über Jahre ein Stereotyp, das Star Trek frühzeitig vorwegnahm.

Bildquelle: drheckle.net
Nach diesen Auflistungen, wird es Zeit, auch die Argumente der gegnerischen Seite unter die Lupe zu nehmen, die davon ausgeht, dass Picard (ein Name, der in dieser und anderen Formen in Großbritannien tatsächlich verbreitet ist) eher aus dem Vereinigten Königreich stammen muss.



Picard ist Brite, weil...

er wie einer spricht. Jeder, der TNG bereits im englischsprachigen Original genossen hat, kommt nicht umhin zu bemerken, dass Patrick Stewart seiner Rolle einen starken britischen Zungenschlag verleiht, die so gar nicht zum Akzent eines Franzosen passen mag. Stewart bedient sich eines eleganten britischen Englischs, dass die Sprechweisen seiner amerikanischen Schauspielerkollegen bereits im direkten Vergleich einen hierarchischen Unterschied nahelegen.

er eine ungewöhnliche Affinität zu Shakespeare zeigt. Picard kann den englischen Nationalbarden nicht nur zitieren ("Mission Farpoint"), sondern gibt sogar Tipps zur Darstellungsweise an den Androiden Data ("Der Überläufer") und hat in seinem Bereitschaftsraum stets eine Sammelausgabe in der Auslage. Shakespeare stand bezüglich seines Einfluss auf die englische Sprache dem Einfluss Luthers auf die deutsche in Nichts nach und auch wenn man andernorts Zuneigung zu Shakespeare empfinden kann, kann wohl niemand den berühmtesten Engländer aller Zeiten so viel Verehrung entgegenbringen wie ein Muttersprachler selbst.


er eine besondere Leidenschaft für Earl Grey (heiß) hegt. Immer wieder sieht man den Sternenflottencaptain diese "urbritische" Teespezialität zu sich nehmen und als wäre diese Passion noch nicht Beweis genug, kann er diese Mischung sogar von Darjeeling (einer anderen traditionsreichen Domäne aus Zeiten des britischen Kolonialreiches) unterscheiden.




er immer wieder britische Marinetraditionen bemüht. So tritt er beispielsweise im Rahmen der Beförderung Worfs in einer britischen Marineuniform auf ("Treffen der Generationen"), vereinnahmt vor der Schlacht mit den Borg den britischen Admiral Horatio Nelson ("In den Händen der Borg", und dass obwohl laut anderer Quellen einer seiner französischen Vorfahren auf der gegnerischen Seite gestanden haben soll) und ist sich nicht zu schade, mit Data fröhlich ein Werk aus der Feder der beiden Engländer Gilbert und Sullivan zu intonieren ("Der Aufstand").
Höhepunkt dieser Anleihen ist ohne Frage jener denkwürdige Moment, in dem Stewart als Picard-Doppelgänger in Zehn Vorne die Seefahrer-Hymne "Heart of Oak" zu singen beginnt, die nicht nur als offizieller Marsch der britischen Navy gilt, sondern auch vom ruhmreichen Sieg der Briten gegen die feigen Franzosen kündet.





er in einem von Qs Streichen ausgerechnet einen britischen Volkshelden mimt. Im Zuge seiner schwierigen Beziehungsführung mit Vash entführt das omnipotente Superwesen seinen vermeintlich französischen Freund weder in eine Illusion "Cyrano de Bergeracs", noch "Les Misérables", geschweige denn in "Die fabelhafte Welt der Amelie". 
Nein, Q packt in "Gefangen in der Vergangenheit" Picards weiße Waden in grasgrüne Leggins und lässt ihn im Sherwood Forrest Robin Hood nachspielen; also genau jene englische Legende, die schon die Fantasie so vieler Film- und Serienproduzenten beflügelt hat. Tatsächlich liegt Nottingham nur knapp hundert Kilometer vom Geburtsort des Schauspielers Patrick Stewarts entfernt und wenn man schon den angeblichen Geburtsort Picards in diese Rechnung mitaufnimmt, sollte man auch der britischen Herkunft des Darstellers berücksichtigen.



Wie man also sieht, kann man für beide Seiten gewichtige Argumente finden, die alle ihre Daseinsbereichtigung haben. Einerseits scheint Picard kein glaubwürdiger Franzose zu sein, während seine Vita aber andersherum auch nicht gerade wie die eines Angelsachsen erscheint.
Um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, sollten wir daher an dieser Stelle noch eine dritte Baustelle eröffnen, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Picard ist in Wirklichkeit Amerikaner, weil...

die USA sich ohnehin auf die gleichen Literaturtraditionen berufen wie die Briten. Shakespeare ist an amerikanischen Schulen zumindest ebenso wichtig wie im Vereinigten Königreich, Robin Hood gehört auch jenseits des Großen Teiches zum allgemeinen Kulturgut und wenn die Marinetraditionen innerhalb der Sternenflotte auf ein bestimmtes Vorbild ausgerichtet sind, dann doch immer noch auf das US-amerikanische. Explizit amerikanischen Autoren steht Picard in puncto Zitierfähigkeit gegenüber Shakespeare jedenfalls in nichts nach, wie seine Kenntnisse über Moby Dick lebhaft unter Beweis stellen (Star Trek: "Der erste Kontakt").

er ein begeisterter Anhänger von Privatdetektivgeschichten ist. Während nämlich der Londoner Sherlock Holmes dem Supergenie Data kampflos überlassen bleibt, widmet sich der Captain der Enterprise in seiner Freizeit dem beinahe erschreckend trivialen Handlungsrahmen eines Privatschnüfflers namens Dixon Hill, wie er in billigen Groschenheften nicht schlechter porträtiert werden könnte. Ein besonderes Kontrastprogramm im Hinblick auf intellektuell anspruchsvollere Köpfe wie Shakespeare, Melville oder Berlioz.




er ebenfalls eine Mitschuld an der Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner trägt. Wie man in "Am Ende der Reise" erfahren konnte, war auch einer der Vorfahren Picards an der systematischen Dezimierung der Indianer beteiligt. Damit schultert er auch eine der Hauptaltlasten amerikanischer Geschichte, da die Besiedler der Neuen Welt nicht gerade zimperlich mit den Heiden umgingen, die sie dort vorfanden. Picard wird von einer Folge zur anderen plötzlich in eine Traditionslinie mit amerikanischen Tätern wie James William Forsyth oder Buffalo Bill gestellt, um die Kollektivschuld des gesamten Landes auf mehrere Köpfe zu verteilen.

Wie man also sieht, steckt auch eine gute Portion Amerikaner in der Figur, was nicht zuletzt darin begründet liegt, dass die verschiedenen an der Serie beteiligten Autoren ebenfalls Amerikaner waren und ihre eigene Lebens- und Erfahrenswelt zur Grundlage eines Picard-Bildes machten, das bis heute anhält.
Und genau da liegt das Problem.
Bedenkt man, dass der geringste Teil dieser Autoren wirklich über Informationen über Frankreich und Großbritannien aus erster (also eigener) Hand verfügte, kann man sich gut vorstellen, dass die bestehenden Lücken mit Allgemeinplätzen und Stereotypen gefüllt wurden.
Aus genau diesem Grund ist La Barre ein Märchenort in allerfeinster Disney-Manier, kommt Picards Französisch kaum über "merde" hinaus und stellt sein Tee-Konsum auch kaum einen Widerspruch dar. Die meisten Stereotypen sind dabei nicht zwangsweise französisch, sondern europäisch beziehungsweise dass, was die Autoren für typisch auf dem Alten Kontinent hielten.


Hinzu kam, dass die Besetzung Picards mit Patrick Stewart das Ergebnis eines langwierigen Prozesses war, in deren Verlauf man beschloss, den talentierten Shakespeare-Veteranen eben nicht durch einen verordneten (und höchstwahrscheinlich albernen) Dialekt zu limitieren. Während zu Beginn der ersten Staffel noch viel Wert auf die Betonung der französischen Herkunft Picards gelegt wurde, versandeten entsprechende Bemühungen im Laufe der Serie und mit zunehmendem Einflussverlust Gene Roddenberrys und nur punktuell wurde Picards Herkunft noch thematisiert.
Im gleichen Maß und im Zuge des allgemeinen Erfolges der Serie erhielt Stewart mehr und mehr Freiheiten, die er – bewusst oder unterbewusst – auch nutzte, um seiner Rolle einen britischeren Anstrich zu verpassen.
Picard ist daher bei genauerem Hinsehen ein schizophrener Kosmopolit, der im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der amerikanischen Drehbuch-Autoren, Gene Roddenberrys und Patrick Stewarts zu eben jener Kultgestalt geworden ist, die Fans bis heute lieben.

In diesem Sinne: Vive la France!



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